Kurzgeschichte 1

Effie

Es war eine abgelegene Ecke des Strandes. Hier zu den grauen Felsen verirrte sich nur selten eine Seele, so dass die hünenhafte Gestalt, die sich staksend einen Weg zum Felsrand bahnte, einem Fremdkörper gleichkam. Sie setzte sich auf die heißen Steine, aufgeladen von der alltäglichen Sommerhitze, und schob ihre dicke Lederjacke als Schutz- und Sitzkissen unter ihr ausladendes Hinterteil. Sie, das war Elisabeth Fortescue-Whistlfield, genannt Effie. Ihre kurze Hose entblößte unterhalb des linken Knies eine Prothese, ein holziges Andenken an den 16. Februar vor vier Jahren. Es tippte nervös hin und her, sie war angespannt, das war nicht zu übersehen. Ihre Blicke glitten pausenlos über die verschiedenen Armbanduhren. die sie trug, und wanderten zwischen Fossil, Hello Kitty und dem Horizont.

Auf einmal stand er vor ihr und sie nickten sich zu. Oli war mit seinen 1,50 m fast auf Augenhöhe mit ihr und Effies zwinkernde Augen ließen Ihn genau wissen wie es in ihr aussah. Es verärgerte sie: „Alles erledigt?“ blaffte sie ihn an. Er nickte bloß. „Du weißt ja was beim letzten Mal passiert ist als jemand meinte er müsste nicht gründlich genug arbeiten?! Nicht dass es schade um diese Finger war.“ Die letzten Worte wurden von einem gleichgültigen Achselzucken begleitet, dann senkte sie den Blick und begann sorgfältigst die Zehennägel ihres rechten Fußes anzumalen. Oli blieb stumm. Mit zitternden Fingern zündete er sich im Stehen eine Zigarette an, deren Rauch er gierig inhalierte und den er durch die von zahlreichen Konflikten zeugende schiefe Nase wieder der Atmosphäre zurückgab. Er betrachtete ihr Tun, schnippte den glühenden Stummel beiseite und zündete sich die nächste an. Effie schaute nicht hoch. Sie war damit beschäftigt gleichmäßig ihre Zehen zu bepusten. Nach einer Weile setzte er sich ächzend neben die Frau, die sich mittlerweile ihren Fingernägeln widmete.
So harrten sie der Hitze. Die Sonne beschrieb ihren Kreis, aber nichts tat sich. Oli sprang zwischendurch auf, wanderte nervös umher, setzte sich wieder und rauchte eine nach der anderen. Effi konzentrierte sich auf ihre Pinselführung. Farbschicht um Farbschicht verging zähflüssig die Zeit.
Die Sonne verschwand blutrot hinter dem Ozean. Als die Dämmerung schließlich einsetzte, sprang Oli auf und brach sein Schweigen: „ So, das wars´ wohl. Das hätte ich dir gleich sagen können!“ Wie ein in die Enge gezwängtes Tier, umkreiste er ihren Stein. „ Und ich sach´ noch, das kann ja nich´ gutgehen, aber du! Du weißt ja immer alles besser!! Die Übergabe ist gescheitert. Jetzt im Dunkeln können se´ nicht mehr kommen. Ich werd´ sobald ich zuhause bin Pepe anrufen und dann mach ich mich vom Acker. Seh´s ja gar nicht ein mich hier weiter auf dem heißen Blechdach aufzuhalten“- sprachs und setzte sich fluchend in Bewegung.
Effie starrte der schlanken Gestalt noch lange nach, bis die im Wind flackernden braunen Locken nicht mehr als ein schemenhafter Punkt im endlosen Sand waren und ließ die Schultern hängen. Er hatte Recht, sie konnten nicht mehr kommen. Wie in Trance blieb sie bewegungslos sitzen. Ihre Gedanken jedoch rasten. Ein verworrener Reigen aus dem sich langsam aber mit Bestimmtheit ein dominierender Satz löste: Es kann nicht sein!
Sie wartete, nicht bereit ihre Hoffnung auf ein sorgenfreies Dasein aufzugeben.
Stundenlang stierte sie in die Dunkelheit, im Kopf drehte sich das Karussell.
Unerbittlich spuckte es Bilder, Erinnerungen und Farben aus, tanzte einen endlosen Reigen aus Gewalt, Drogen, Armut, Blut, ja blutrot war alles das sie dachte…Doch, halt…
Was war das?
Auf einmal hörte Effi ein Flattern und ein Rauschen, gefolgt von einem dumpfen Aufprallgeräusch ganz in ihrer Nähe. Die 2,20m Frau blickte nach oben und mit einem Satz richtete sich zu ihrer vollen beachtlichen Größe auf, um nach einem dieser flatternden Schatten zu greifen.
Es war eine 100 Dollar-Note.
Sie war erstarrt. Minutenlang.
Dann brach ein triumphaler Schrei sich seinen Weg durch ihre Kehle. Mit einem gewaltigen Satz hechtete Effie zu der Stelle des Aufschlaggeräusches und brach beim Anblick der prall gefüllten schwarzen Sporttasche in Tränen aus.
Endlich, endlich, endlich hatte all das Leid ein Ende.
Sie raffte ihre Habseligkeiten zusammen und eilte schnellen Schrittes in eine, wie sie hoffte, nun bessere Zukunft.
Während die Tasche um ihre Beine schlug, malte sie sich bereits aus, wie sie auf einer Yacht vor Barbados lag und sorgfältig die Zehennägel ihrer neuen Fuß-prothese in Pinkkorall anmalte. Ein breites Lächeln stahl sich auf Effis Gesicht.
Endlich.